Macht die Reue Raskolnikows in Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“ ihn moralisch „gut“?
Die Gewissensbisse der Figur Raskolnikow in Dostojewskis Schuld und Sühne verkörpern einen der komplexesten moralischen Widersprüche, die in der Geschichte der Philosophie diskutiert wurden. Der psychische Zusammenbruch, den Raskolnikov nach dem Mord erlebt, wirft grundlegende Probleme auf, etwa den „ontologischen Status des Gewissens“, „freien Willen und moralische Verantwortung“ und die „Metaphysik des Bösen“. Um diese Frage eingehend zu analysieren, ist es notwendig, zunächst den philosophischen Hintergrund des Gewissensbegriffs und dann die Bedingungen der Reue und moralischen Wandlung im Fall Raskolnikow zu untersuchen.
- Philosophische Grundlagen des Gewissens: Gibt es ein universelles moralisches Gesetz?
Raskolnikows Reue spiegelt die Spannung zwischen der kantischen Deontologie und der nietzscheanischen Theorie des Übermenschen wider:
Kants kategorischer Imperativ: Wenn das Gewissen die verinnerlichte Form des universellen Sittengesetzes ist, beweist Raskolnikows Leiden nach einem Verbrechen dann die Existenz einer objektiven Moral? Für Kant ist das „moralische Gesetz“ der rationalen Natur des Menschen inhärent; Raskolnikows Leiden ist der Preis für den Verrat an diesem Gesetz.
Nietzsches Perspektive: Raskolnikov vertritt zunächst die Theorie des „überlegenen Menschen“: Für die großen Persönlichkeiten, die Geschichte schreiben, gelten gewöhnliche moralische Regeln nicht. Aber ist die Reue, die er empfindet, eine psychologische Widerlegung dieser Behauptung? Nach Nietzsche ist das Gewissen nichts anderes als „die nach innen gerichtete Hinwendung der Instinkte“; Raskolnikows Leiden ist die Unterdrückung seines Machtwillens.
Hegelsche Dialektik: Der von Raskolnikov erlebte Konflikt zeigt die Unvereinbarkeit zwischen „Selbstbewusstsein“ und „Geist“. Das Gewissen ist die Tragödie des Individuums im Konflikt mit der gesellschaftlichen Sittlichkeit.
- Reue und moralische Wandlung: Warum Raskolnikov nicht als „gut“ gelten kann
Raskolnikows Reue macht ihn nicht automatisch „moralisch gut“. Dafür gibt es drei Hauptgründe:
Fehlende moralische Absicht: In der Kantschen Ethik wird der moralische Wert einer Handlung durch die Absicht bestimmt. Raskolnikows Leiden sind nicht auf die Unrechtmäßigkeit seines Mordes zurückzuführen, sondern auf seinen eigenen psychischen Zusammenbruch. Er leugnet nicht die moralische Verwerflichkeit des Verbrechens, sondern das Leid, das es ihm zufügt.
Illusion der Freiheit: Nach Sartres Konzept des „bösen Glaubens“ ist Raskolnikows Reue eine Flucht vor der Verantwortung für seine freie Entscheidung. Er flüchtet sich in die Rolle des „Opfers des Schicksals“. Eine echte moralische Transformation ist nur durch die Akzeptanz des ontologischen Übels des Verbrechens möglich.
Der Sonya-Faktor: Raskolnikovs moralisches Erwachen ist nur durch Sonyas bedingungslose Liebe und religiöse Vergebung möglich. Dies lässt sich mit Levinas’ Konzept des „Anderen“ erklären: Wahre Moral entsteht nur in der Konfrontation mit dem Gesicht des Anderen. Raskolnikow sieht in Sonjas Augen seine eigene Bösartigkeit.
- Die Metaphysik des Bösen: Gibt Reue Hoffnung auf „Gutes“?
Am Ende des Romans deutet Dostojewski an, dass Raskolnikow in Sibirien einen Prozess der spirituellen Reinigung durchläuft. Dies ist ein typisches Thema des christlichen Existentialismus:
Kierkegaards „Furcht und Zittern“: Raskolnikov bewegt sich von der ethischen Phase (Mord) zur religiösen Phase (Reue und Gnade). Doch dieser Übergang erfordert einen absurden Vertrauensvorschuss.
Berdjajews Theorie des Bösen: Das Böse ist ein Nebenprodukt der schöpferischen Freiheit. Raskolnikows Leiden ist ein Beweis seiner Freiheit; Denn nur ein freies Wesen kann erkennen, welches Böse es getan hat.
Schopenhauers Ethik des Mitleids: Wenn Leiden das Wesen der Welt ist, führt Raskolnikows Leiden ihn dann zur „moralischen Einheit“, indem es ihn zu einem Partner am universellen Leiden macht?
Das Gewissen ist keine Garantie für moralische Güte
Raskolnikows Reue macht ihn nicht automatisch „gut“, aber sie ist ein Beweis seiner moralischen Fähigkeiten.Eine echte moralische Transformation kann nur stattfinden, wenn:
Indem man das objektiv Böse des Verbrechens akzeptiert,
Indem wir Verantwortung gegenüber dem Anderen übernehmen,
Es ist möglich, die Selbsttäuschung loszuwerden.
Dostojewski fragt uns: „Erlangt der Mensch moralische Reife nur durch Leiden?“Raskolnikows Tragödie liegt in seiner Suche nach der Antwort auf diese Frage.