Warum war Gregor Samsas erster Gedanke, als er sich in Franz Kafkas „Die Verwandlung“ in ein Insekt verwandelte: „Ich komme zu spät zur Arbeit“?
Kafkas „Die Verwandlung“ beginnt damit, dass Gregor Samsa sich eines Morgens in ein riesiges Insekt verwandelt. Seine erste Reaktion besteht jedoch nicht darin, die groteske Veränderung seines Körpers zu verstehen, sondern eher darin, sich Sorgen zu machen, dass er zu spät zur Arbeit kommt. Dieser Moment ist nicht nur eine absurde literarische Szene, sondern auch eine Widerspiegelung der tragischen Psychologie des modernen Menschen angesichts von Desidentifikation, Entfremdung und der Unterdrückung durch die kapitalistische Ordnung.
- Die existenzielle Falle der Arbeitssucht: „Arbeiten ist Existieren“
Gregors erster Reflex nach seiner Verwandlung ist Angst davor, zur Arbeit zu gehen. Dies zeigt, dass seine Identität vollständig mit seinem Beruf identifiziert ist. Gregor, der sich selbst als „Reiseverkäufer“ bezeichnet, hat seine menschliche Essenz verloren und ist zu einem Rädchen im System geworden. Hier kritisiert Kafka den Versuch des modernen Individuums, sich durch die Arbeit zu legitimieren:
Die Logik „Ich arbeite, also bin ich“ ist eine kapitalistische Deformation von Descartes’ Prinzip „Ich denke, also bin ich“.
Arbeit ist Gregors Existenzberechtigung; Auch wenn sich sein Körper verändert, ist sein Geist immer noch ein Sklave dieser Ordnung.
- Der Verrat am Körper und die Identitätskrise
Gregors Verwandlung in ein Insekt symbolisiert die Kluft zwischen Körper und Geist:
Der Körper gehört ihm nicht mehr, aber sein Bewusstsein trägt immer noch menschliche Belange in sich. Dies ähnelt Lacans Konzept des „Realen“: Er wird mit einem Schrecken konfrontiert, den er nicht verstehen kann.
In einer Freudschen Lesart ist der Insektenkörper eine Metapher für Gregors unterdrückten Hass auf die Familie und seinen Wunsch nach Freiheit. Sein Unterbewusstsein tarnt ihn als etwas, das ihn davor bewahren wird, der Familie finanziell zur Last zu fallen.
- Soziale Entfremdung: „Was nicht nützlich ist, hat keinen Wert“
Gregors Familie sieht ihn nur so lange als „Gregor“, wie er Geld verdient. Nach der Konvertierung:
Die Gewalt seines Vaters ist Ausdruck der kapitalistischen Autorität.
Das anfängliche Mitgefühl ihrer Schwester verwandelt sich allmählich in Ekel. Dies unterstreicht die Bedingtheit menschlicher Beziehungen.
In der Schlussszene ist die Familie erleichtert, dass Gregor keine „Last“ mehr ist. Hier übt Kafka scharfe Kritik an den instrumentalisierten menschlichen Beziehungen.
- Absurdität und Freiheit: „Ist ein Insekt zu sein eine Freiheit vom Menschsein?“
Gregors Verwandlung weist Parallelen zum absurden Helden in Camus’ „Der Mythos des Sisyphos“ auf:
Was wie eine sinnlose Strafe erscheint, bewahrt Gregor tatsächlich davor, ein Sklave seiner Arbeit und Familie zu sein.
Sein Tod kann als Befreiung verstanden werden: Er muss nicht länger „sein“.
Kafkas Prophezeiung
Die Verwandlung ist eine Dystopie der Seelenlosigkeit des modernen Menschen. Gregors Panik: „Ich komme zu spät zur Arbeit“ spiegelt die Angst in uns allen wider:
„Wenn ich nicht produziere, wer bin ich dann?“
„Wie deformiert muss ich sein, um akzeptiert zu werden?“
Kafka flüstert uns zu, dass wir dazu verdammt sind, im Panzer eines Insekts zu leben.