Wie wahr sind Nietzsches Worte: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“? Macht Leiden einen stärker oder ist es nur eine Illusion?

Der Aphorismus „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ wird häufig als einer der Eckpfeiler seines philosophischen Systems diskutiert. Obwohl dieses Zitat wie eine Zusammenfassung von Nietzsches Gedanken über Leben, Leiden und die menschliche Natur erscheinen mag, hat es eine viel komplexere Bedeutung als oberflächlichen Optimismus.

Nietzsches Verständnis von Schmerz und Macht

In Nietzsches Philosophie ist Schmerz ein unvermeidlicher Teil der Existenz und eine der grundlegenden Dynamiken, die den Sinn des menschlichen Lebens prägen. Für ihn ist Schmerz nicht bloß ein Hindernis oder Unglück, sondern ein Katalysator im Prozess des Selbstaufbaus und der Annäherung an das Ideal des „Übermenschen“. Nietzsche verherrlicht das Leiden nicht auf romantische Weise; im Gegenteil, er sieht darin ein Mittel zur Prüfung und Transformation. In diesem Zusammenhang deutet der Satz „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ darauf hin, dass Schmerz den Einzelnen vom passiven Opfer zum aktiven Schöpfer machen kann.

Allerdings sollte diese Behauptung nicht als universelle Realität verstanden werden, sondern eher als ein Potenzial, das mit der Reaktion des Einzelnen auf Schmerz zusammenhängt. Mit seinem Konzept des „Willens zur Macht“ betont Nietzsche den Wunsch, dem menschlichen Leben einen Sinn zu geben und angesichts des Chaos Ordnung zu schaffen. Dieser Wille wird im Schmerzbereich auf die Probe gestellt. Wenn der Einzelne den Schmerz verstehen, sich ihm stellen und ihn zu einem Teil seines existenziellen Projekts machen kann, kann dieser Prozess wirklich zur Stärkung des Selbstwertgefühls führen. Andernfalls kann das Leiden den Einzelnen erdrücken und ihn in den Nihilismus oder den passiven Konformismus des „letzten Menschen“ treiben.

Das stärkende Potenzial des Schmerzes

Aus Nietzsches Sicht hängt die verstärkende Wirkung des Schmerzes mit der Fähigkeit des Einzelnen zusammen, das Prinzip des amor fati (Liebe zum Schicksal) anzunehmen. Wenn ein Mensch bereit ist, jeden Augenblick seines Lebens – auch den Schmerz – unendlich oft zu erleben, wie es die Idee der Ewigen Wiederkunft vorsieht, ist dies ein Zeichen existenzieller Reife und Stärke. In diesem Zusammenhang ermöglicht Schmerz dem Einzelnen, seine eigenen Grenzen zu erkennen, seine Schwächen zu überwinden und seine eigenen Werte zu entwickeln. So wurde beispielsweise Nietzsches eigenes Leben – fortwährende gesundheitliche Probleme, Einsamkeit und soziale Ausgrenzung – zum Motor seines philosophischen Schaffens. Dies zeigt, dass er Schmerz als eine Form der „schöpferischen Zerstörung“ betrachtete.

Philosophisch kann dieser Gedanke auch als Kontrapunkt zu Schopenhauers Pessimismus gelesen werden. Während Schopenhauer das Leben als einen sinnlosen Kreislauf des Leidens betrachtet, schlägt Nietzsche vor, das Leiden anzunehmen, anstatt es abzulehnen. Schmerz ist ein Werkzeug im Prozess der Konstruktion der eigenen existenziellen Bedeutung des Individuums. Daher hängt das Potenzial zur Stärkung der Selbstbestimmung von der Einstellung des Einzelnen zum Schmerz und seinem Umgang damit ab.

Ein kritischer Blick: Macht Schmerz immer stärker?

Die Akzeptanz von Nietzsches Aphorismus als universelle Wahrheit ist mit einiger Kritik verbunden. Erstens haben Schmerzen nicht bei jedem Menschen die gleiche Wirkung. Psychologische, soziologische und biologische Faktoren beeinflussen die Auswirkungen von Schmerzen auf den Einzelnen. Beispielsweise können traumatische Erlebnisse manchen Menschen Kraft geben, während andere in einem permanenten Zustand der Hilflosigkeit und Verletzlichkeit verbleiben. Das Konzept der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) in der modernen Psychologie zeigt, dass Schmerz nicht immer zu einer konstruktiven Transformation führt. Obwohl Nietzsches Philosophie großen Wert auf den Willen und die schöpferischen Fähigkeiten des Einzelnen legt, berücksichtigt dieser Ansatz externe Faktoren wie strukturelle Ungleichheiten, systemische Unterdrückung oder biologische Einschränkungen möglicherweise nicht ausreichend.

Darüber hinaus sollte Nietzsches Begriff der „Macht“ eher als existenzielle Tiefe und Originalität verstanden werden denn als physische oder soziale Überlegenheit. Doch in der Populärkultur ist dieser Aphorismus oft zu einer Art Klischee-Slogan für individuelle Widerstandsfähigkeit geworden. Dies führt zu einer Verwässerung der tiefen philosophischen Bedeutung, die Nietzsche beabsichtigte. Die stärkende Wirkung von Schmerz hängt ausschließlich von der Fähigkeit des Einzelnen ab, den Schmerz zu verstehen und neu einzuordnen. Ansonsten ist Schmerz an sich keine automatische Kraftquelle.

Eine schmerzhafte Illusion?

Die Frage, ob die verstärkende Wirkung des Schmerzes eine Illusion ist, ist mit Nietzsches Kritik des Nihilismus verknüpft. Wenn der Einzelne lediglich versucht, sein Leiden durch die Illusion von „Sinn“ oder „Macht“ zu vertuschen, könnte dies eine Form der von Nietzsche kritisierten „Herdenmoral“ sein. Wenn man beispielsweise Schmerz als heiliges Opfer oder göttliche Prüfung betrachtet, bedeutet dies laut Nietzsche, dass man seinen Willen und seine schöpferische Kraft einer externen Autorität überlässt. Diese Art der Illusion hält den Einzelnen in einem Zustand passiver Akzeptanz gefangen, statt ihn wirklich zu stärken.

Allerdings impliziert Nietzsches eigene Philosophie auch, dass die Bedeutung des Leidens eine Art „schöpferische Illusion“ sei. Die Idee des Lebens als Kunst argumentiert, dass der Mensch seinen eigenen Sinn in einer chaotischen und bedeutungslosen Welt schaffen muss. In diesem Zusammenhang ist die stärkende Wirkung des Schmerzes, auch wenn es sich um eine Illusion handelt, für das Individuum eine notwendige Illusion, um sein existenzielles Projekt zu verfolgen. Wichtig für Nietzsche ist, dass diese Illusion aus dem eigenen Willen des Einzelnen entsteht und eine ursprüngliche Schöpfung ist.