Haben sich die moralischen Werte der Figuren in Emile Zolas Roman Germinal angesichts von Hunger und Elend verändert und was haben sie getan, um zu überleben?
Émile Zolas Roman Germinal ist nicht nur ein Beispiel für sozialen Realismus; Es handelt sich auch um eine tiefgründige philosophische Untersuchung der moralischen Orientierung des Menschen in Grenzsituationen. Während die Charaktere im Griff von Hunger und Elend über klassische moralische Kategorien hinausgezogen werden, stellt sich ständig die Frage, ob Moral universell und unveränderlich ist.
- Étienne Lantier – Die Entwicklung der Moral zum Klassenbewusstsein
Zu Beginn des Romans handelt Étienne mit einem individualistischen Ideal von Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Angesichts des Elends der Bergleute weicht dieser ethische Ansatz jedoch der Moral der kollektiven Rettung. Streikaufrufe, gewaltsamer Widerstand und der Wunsch nach Systemveränderung verwandeln seine individuelle Moral in eine klassenzentrierte Kampfmoral.
Moralische Transformation: Der Übergang von der Kantschen Ethik der individuellen Pflicht zur Klassenethik, die im historischen Materialismus von Marx zum Ausdruck kommt.
Überlebenspraxis: Indem man sich auf einen Kampf einlässt, um das System zu stürzen, anstatt es zu reformieren, reduziert man die „Moral“ auf die soziale Rettung.
Philosophische Begründung: Moral wird durch soziale Bedingungen geprägt; die Vorstellung, dass Armut und Hunger das individuelle Gewissen der historischen Notwendigkeit unterordnen.
Zolas Botschaft durch Étienne: In einer vom Hunger geprägten Welt ist Tugend nicht individuell, sondern revolutionär.
- Maheu – Der Arbeiter zwischen Gewissen und Notwendigkeit
Maheu ist eine klassische Arbeiterfigur: ehrlich, fleißig und seiner Familie ergeben. Doch durch systematische Ausbeutung werden diese „tugendhaften“ Eigenschaften allmählich dysfunktional. Der Hunger seiner Familie erschüttert seine traditionelle moralische Haltung. Mit seiner Teilnahme am Streik erhebt er nicht nur einen Anspruch, sondern stellt auch sein eigenes Wertesystem in Frage.
Moralische Transformation: Der Wechsel von der christlichen Ethik der Geduld und Arbeit zur sozialen Ethik der Wut und des Kampfes.
Überlebenspraxis: Er beschließt, sich dem System nicht mehr zu unterwerfen und sein Recht auf Leben durch einen Streik zu verteidigen.
Philosophische Begründung: Moral ist nicht nur Gehorsam; Dazu gehört auch der Mut, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren. Dies entfernt sich von Aristoteles’ Verständnis der Tugend und geht mehr in Richtung einer Hobbes’schen Ethik der Verpflichtung.
Die Idee, die Zola durch Maheu vermittelt: Wenn die Moral ihre Lebensfähigkeit verliert, verteidigen die Menschen das Leben selbst gegen die Moral.
- Maheude – Übergang von der Muttermoral zur Rebellion
Maheude lebt ihre moralischen Werte vor allem durch Mutterschaft und religiöse Hingabe. Die Unfähigkeit einer Mutter, ihre Kinder zu ernähren, ist für sie jedoch kein moralischer Verfall, sondern ein Zeichen der Unmoral des Systems. An diesem Punkt rechnet er nicht mit sich selbst ab, sondern mit der Ordnung, in der er sich befindet. Sie kämpft auch nach dem Tod ihres Mannes weiter.
Moralische Transformation: Von der geduldigen Mutterfigur zur widerständigen Frauenfigur; der Übergang von der passiven Tugend zur aktiven Gerechtigkeit.
Überlebenspraxis: Statt zu beten, um den Hunger zu bekämpfen, unterstützt er lieber den Streik.
Philosophische Begründung: Sie steht einem existenzialistischen Ethikverständnis nahe: Moral erfordert die gemeinsame Übernahme von Leben und Verantwortung.
Was Zola mit der Figur der Maheude verdeutlicht, ist, dass die Moral, wenn sie den Hunger nicht versteht, ein Instrument der Bestrafung und nicht des Gewissens ist.
- Souvarine – Die nihilistische Ablehnung der Moral
Souvarine ist eine Figur, die den Orden nicht reformieren, sondern im Kern zerstören will. Für ihn ist Elend nicht nur ein Fehler, sondern ein Indikator für den moralischen Verfall des gesamten Systems. Daher verliert in seinen Augen sogar die Heiligkeit einzelner Leben ihre Gültigkeit.
Moralische Transformation: Ein Nihilismus, der moralische Werte radikal ablehnt.
Überlebenspraxis: Sabotiert das System und zielt nicht auf das Leben Einzelner, sondern auf die Zerstörung der gesamten Ordnung.
Philosophische Begründung: Es liegt nahe an der Ansicht, dass das gegenwärtige Moralsystem eine „Sklavenmoral“ im nietzscheanischen Sinne ist. Damit eine neue Ordnung entstehen kann, müssen bestehende Werte sterben.
Die tragische Wahrheit, die Zola durch Souvarine präsentiert: In einer unmoralischen Welt kann Moral letztendlich nur durch Gewalt ersetzt werden.
- Catherine – Moralischer Verfall, verkörpert durch Schweigen
Catherine repräsentiert das geschlechtsspezifische Gesicht des Elends. Der Hunger nimmt nicht nur den Magen, sondern auch den Körper in Beschlag. Für ihn sind Begriffe wie Sexualität, Liebe oder Ehre kein Luxus mehr, sondern Überlebensstrategien. Sein Schweigen zeigt, wie unmoralisch das System ist, in dem er sich befindet.
Moralische Transformation: Der Entzug des Rechts, innerhalb des Systems einer Person zu sprechen und Widerstand zu leisten, deren Werte nie anerkannt wurden.
Überlebensübung: Liebe, Arbeit und den Körper als Werkzeuge nutzen, um am Leben zu bleiben.
Philosophische Begründung: Im Kontext feministischer Ethik betrachtet, ist ihr Schweigen keine „Wahl“, sondern ein Zustand der „Entbehrung“.
Was Zola mit Catherine sagen will, ist, dass selbst das Privileg, moralische Werte zu haben, klassenbezogen ist – für manche war dieser Luxus nie möglich.



